Sexualisierte Gewalt bei gehörlosen Frauen und Frauen mit Hörbeeinträchtigung
Warum ein besonderes Augenmerk auf die Gruppe von gehörlosen und hörbeeinträchtigten Frauen?
Zum einen sind die Zahlen betroffener Mädchen und Frauen (aber auch betroffener männlicher Hörgeschädigter) überdurchschnittlich hoch. Aktuelle Studien belegen, dass mehr als die Hälfte der gehörlosen Frauen Erfahrungen mit sexualisierter und struktureller Gewalt in Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben hat. Insbesondere sind sie von körperlicher, sexualisierter und psychischer Gewalt durch Beziehungspartner fast dreimal so häufig betroffen wie im Bevölkerungsdurchschnitt.
Gehörlose Frauen erleben Bedingungen, die sie in ihrer Freiheit, in ihren Entscheidungen durch räumliche, äußere Umstände oder institutionelle Regeln einschränken (vgl. Schröttle BMFSFJ 2014).
Die eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten, häufig auf die Gehörlosengemeinschaft beschränkte Lebensumstände, und die zumeist in Institutionen und Fördereinrichtungen stattfindende Bildung und Erziehung, können eine Isolation von gehörlosen Frauen bedingen. Dies gilt als Risikofaktor, von sexualisierter Gewalt betroffen zu sein, da Hierarchien und Strukturen in Institutionen oftmals sexualisierte Gewalt begünstigen.
Unter diesen Bedingungen ist es oft schwierig, Hilfsmöglichkeiten zu erhalten, bzw. schränkt es den Kreis der Personen ein, an die sich Frauen und Mädchen wenden können, wenn sie von Gewalt betroffen sind oder waren.
Selbst ohne Beeinträchtigung gehen Fachleute davon aus, dass z.B. ein Kind bis zu sieben Personen ansprechen muss, bevor ihm geglaubt wird und es eine Reaktion oder eine handfeste Unterstützung bekommt.
In der Gehörlosengemeinschaft ist die Problematik, dass alle alles von allen (vermeintlich) wissen, ein weiterer Faktor, der es erschwert, sich an Personen um Unterstützung zu wenden. Scham und Schuldgefühle verkomplizieren dies obendrein.
Ein weiterer Risikofaktor, der auf die besondere Situation gehörloser Frauen und Mädchen einwirkt, ist die Tabuisierung sexueller Aufklärung. Daraus folgt ein Anstieg des Gefahrenpotentials für sexuelle Ausbeutung, weil Kinder und Erwachsene nicht über intime Dinge zu sprechen vermögen, ihnen womöglich die entsprechenden Worte und Begriffe fehlen. Somit besteht eine für gehörlose und hörbeeinträchtigte Betroffene multifaktorielle Gefährdungssituation: Wenn keine angemessene Sprache zur Verfügung steht, fehlt die Möglichkeit, Erlebtes zu schreiben, und das Erlebte macht sprachlos, weil es unaussprechlich erscheint.
Diese Unaussprechlichkeit ist zudem gegeben, weil Täter und Täterinnen meistens Menschen sind, zu denen eine Form von Vertrauensverhältnis besteht. Nur in den seltensten Fällen sind es fremde Menschen, die als Täter/Täterin genannt werden, sondern vor allem Menschen aus dem näheren Umfeld von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, wie Familie, Bekannte, Nachbarn, aber eben auch Erziehende und Lehrkräfte, KollegInnen und Vorgesetzte. Auch zwischen Gleichaltrigen und in Partnerschaften sind die Zahlen von hörbeeinträchtigten Betroffenen sexualisierter Gewalt hoch, ebenso wie sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen in Internaten und (Förder-) Schulen.
In den Einrichtungen der Hörgeschädigtenpädagogik ist die Prävention sexueller Gewalt bis heute leider nur unzureichend etabliert.
Aufgrund der besonderen Bedarfe in der Kommunikation ist es für Hörgeschädigte schwierig, entsprechende Hilfs- und Beratungsangebote zu finden. Spezielle psychosoziale oder psychotherapeutische Angebote für Hörbeeinträchtigte gibt es nur selten. Gemeinsam mit einer Dolmetscherin oder einer anderen Person eine Beratung aufzusuchen stellt eine zusätzliche Hemmschwelle dar. Sich gleichzeitig zwei Menschen zu öffnen und von dem Erlebten zu erzählen, erscheint ungleich schwieriger. Deshalb ist es wichtig, Möglichkeiten zu schaffen, bei der gehörlose und hörbeeinträchtigte Frauen und Mädchen einfacher Zugang zu Beratung finden.
In der Kommunikation mit Hörgeschädigten gilt es, besondere Verhaltensregeln zu beachten: Die kommunikative Beeinträchtigung auf der einen Seite, sowie die hohe emotionale Belastung auf der anderen Seite erfordern eine umsichtige und reflektierte Herangehensweise an die Gesprächssituation.
Es ist unerlässlich, sowohl räumliche und akustische, so wie sprachliche aber auch technische Bedingungen für eine gelungene Kommunikation zu kennen, um die verbale wie nonverbale Kommunikation angemessen einordnen und anwenden zu können.
Gesprächsführung mit hörgeschädigten Klientinnen basiert also sowohl auf den Kenntnissen der besonderen Bedarfe Hörgeschädigter und Gehörloser als auch auf dem Basiswissen von Kommunikationstheorien und erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten. Eine Beratung muss daher viele Aspekte berücksichtigen: die psychosozialen und pädagogischen Grundlagen im Umgang mit hörgeschädigten Betroffenen, verschiedene Kommunikationsmodelle, wie z.B. DGS und LBG als Möglichkeiten der Gebärdensprache, die Bedeutung von Visualisierung zur Sicherstellung von Gesprächsinhalten, und eine situative Gestaltung von Gesprächssituationen.
Frauen und Mädchen mit Hör- Behinderung haben manchmal größere Schwierigkeiten das Erlebte auszudrücken. Hier sind Methoden gefragt, mit denen es leichter fällt, Gedanken und Gefühle zu äußern. Methoden ohne Sprache sind in der Beratung grundsätzlich wichtig, weil es häufig sprachlos macht, was geschehen ist.
Den ersten Schritt zu tun, überhaupt jemandem vom Erlebten zu erzählen, ist oft schon eine große Hürde. Scham und Angst zu überwinden und sich an jemand zu wenden ist bereits ein mutiger Schritt und bedarf behutsamer und einfühlsamer Aufmerksamkeit im Rahmen der Beratung. Jede Frau, die sich meldet, entscheidet selbst, über was sie sprechen möchte, wie viel sie erzählt oder nicht erzählt. Eine Begleitung in andere Angebote, zur Polizei oder zu therapeutischen Einrichtungen kann auch ermöglicht werden.
Fortbildungen und Präventionsangebote für die Zielgruppe können im Rahmen des Fortbildungsangebots gebucht werden.